"WASSER!" - Mein erster Staffel-Marathon
Erfahrungsbericht von Martina Bartling
Als die Anfrage des Kollegen kommt, überlege ich kurz: Bin ich in diesem Jahr überhaupt schon gelaufen? Na ja, vielleicht ein-, zweimal im Frühjahr. Aber davon weiß mein Körper inzwischen längst nichts mehr. Es ist inzwischen September.
In zehn Tagen soll ein Staffel-Marathon stattfinden, auch unsere Organisation hat zwei Mannschaften - bestehend aus jeweils sieben Läufern - gemeldet. Jetzt musste jemand absagen, und es wird dringend nach Ersatz gesucht.
Jeder Läufer hat 6 km zurückzulegen - eine Etappe, die ich zwar gewohnt bin zu bewältigen - wenn ich denn mal laufe. Aber: Ich laufe langsam! Habe bei einem Sportarzt einmal genau bestimmen lassen, mit welcher Herzfrequenz ich laufen soll: 130. Und die erreiche ich bereits, wenn ich locker eine Treppe hochmarschiere.
Mit meiner Langsamkeit würde ich in der Gesamtauswertung die komplette Mannschaft in den Abgrund reißen. Ich werde erfahrungsgemäß 50 Minuten benötigen, bei den anderen - geübten - Läufern aus der Mannschaft ist die Rede von "30 plus x". Andererseits: Ohne meine Teilnahme könnten sie überhaupt nicht starten. Also sage ich zu mit dem Hinweis auf mein Schneckentempo und der Bedingung, mir das Ganze übers Wochenende nochmal überlegen zu dürfen.
Fürs Wochenende steht nämlich Training auf dem Plan. Ich laufe ab sofort ohne Plusmesser, nur nach Tempo. Sofern bei mir überhaupt von "Tempo" die Rede sein kann. Ich laufe so, dass mein Herz schneller schlägt als bei dem gewohnten, moderaten 130er Puls, aber auch nur so schnell, wie ich glaube, es gesundheitlich vertreten zu können. Sehstörungen sind zusätzlich zum erhöhten Herzschlag ein deutliches Zeichen, dass ich schneller laufe, als der Arzt erlaubt. Ich halte die Runde aber durch und sehe am Schluss gespannt auf die Uhr: Hah! 40 Minuten!
Wieder zu Hause angekommen, schreibe ich schnell eine Mail an meinen Kollegen, solange ich noch unter dem euphorisierenden Einfluss des in meinem Blutkreislauf zirkulierenden, selbst produzierten Dopamins stehe: "Bin dabei! 40 Minuten!"
Noch zweimal laufe ich die Strecke und kann mich dabei sogar noch weiter steigern: 39:35 und 38:45! Wenn ich am Wettkampftag mit einer Zeit abschneiden könnte, bei der eine 3 vorne steht, wäre ich also zufrieden!
Tag x ist da! Lampenfieber meldet sich. Von den 7 Läufern meiner Mannschaft bin ich Nummer 5. Start und Ziel befinden sich in einem kleinen Stadion, die Strecke selbst führt um einen See. Mir wird eine Startnummer ausgehändigt, die ich an meinem Mannschaftsshirt befestigen soll. Ich habe zuvor noch nie ein Mannschaftsshirt getragen. Und auch keine Startnummer. Jetzt wird mir langsam mulmig!
Zunächst gilt es aber, die Läufer, die vor mir dran sind, ordentlich auf die Strecke zu bringen und vor allem lautstark zu bejubeln, wenn sie nach getaner Arbeit in das Stadion wieder einlaufen. Ich bin teilweise erschrocken, was 35 Minuten aus einem Menschen machen können, und atme tief durch.
Einer aus unserer Gruppe führt genau Buch, notiert Start- und Zielzeiten der einzelnen Läufer und kann jederzeit Auskunft geben, in wieviel Minuten der nächste Läufer im Stadion zurück erwartet wird. Danach richten sich nicht nur die Applaudierenden, sondern auch die Läufer, die als nächste dran sind. Denn sie müssen sich rechtzeitig auf die Startposition begeben, um den Staffel-Stab entgegen zu nehmen.
Und genau da stehe ich jetzt. Vor Aufregung natürlich viel zu früh. Nach unruhigen 10 Minuten sehe ich meinen Kollegen endlich ins Stadion laufen. Schweißgebadet und rotgesichtig überreicht er mir mit ernster Miene den Stab. Ich trabe los und fühle mich beobachtet. Die Kollegen gucken bestimmt! Beschließe, mal am Anfang einen kleinen Spurt hinzulegen - wenn ich außer Sichtweite bin, kann ich das Tempo ja wieder drosseln. Gedacht, getan. Ob das alle so machen?
So. 6 km liegen vor mir. Ich laufe mit erhöhtem Herzschlag, wie ich es in meinen wenigen Trainingseinheiten ausprobiert habe. Es ist ein seltsames Gefühl, diese Strecke, die ich sonst auch laufe, so verändert vorzufinden: Keine spazieren gehenden Familien, gassigehenden Hundehalter oder Freizeitjogger, sondern überall diese durchnummerierten Athleten, von denen mich bereits die ersten überholen.
Mir ist klar: Die Lage ist ernst! Ich laufe heute nicht zu meinem eigenen Vergnügen, sondern ich trage Verantwortung für mein Team! Angesichts dieser Erkenntnis baut mein rasendes Herz zusätzlich ein paar Panik-Stolperer ein, und ich laufe schneller.
Was ich aufgrund der Ausschreibungsunterlagen bereits weiß: Nach der Hälfte der Strecke gibt es einen "Verpflegungspunkt"! Dieser Begriff und das Bild, das ich damit verbinde, haben es mir von Anfang an angetan! Große, weite Welt! New-York-Marathon! TV-Übertragung! Menschen am Ende ihrer körperlichen Kräfte greifen verzweifelt nach der letzten Rettung: einem Becher Mineralwasser!
Nicht, dass ich nicht 6 km ohne einen Schluck Wasser laufen könnte - das hat ja bisher auch immer prima ohne geklappt. Aber dieses Mal muss es einfach sein! Einmal im Leben keuchend nach so einem Becher schnappen, ihn austrinken und anschließend rücksichtslos in die Landschaft schmeißen!
So ähnlich hat der Läufer vor mir wohl auch gedacht. Die jungen Leute am Verpflegungspunkt recken uns mit ausgestreckten Armen die Wasserbecher entgegen, und er brüllt: "WASSER!!!!!!!!" Nicht schlecht. Gute Performance!
Ich selbst bin etwas enttäuscht. Man kann das Wasser gar nicht im vollen Lauf trinken, weil alles überschwappt. Das Tempo möchte ich aber auch nicht reduzieren. Also nehme ich nur ein paar Schluck. Und dann … darf man den Becher doch nicht einfach ins Gelände werfen, sondern muss in einen Pappkarton treffen. Tja, es ist eben doch nicht alles so, wie es einem im Fernsehen vorgegaukelt wird.
Jetzt ist also die zweite Halbzeit eingeläutet. Und frisch gestärkt kann ich sogar punkten: Ich kann zum ersten Mal jemanden überholen! Allerdings: Er läuft nicht, er geht. Hält sich in gebückter Haltung die Seite.
Nach absolvierten 4 km bin ich der Meinung, dass es Zeit wird, über meine weitere Strategie nachzudenken. Mein Herz rast, mein Sehvermögen ist getrübt. Soll ich noch eine Schippe drauflegen? Schließlich wartet dort wahrscheinlich bereits jetzt mein Kollege an der Startlinie und starrt auf den Eingang des Stadions. Meine Beine sind nicht müde, die könnten ohne Weiteres viel schneller rennen. Aber was sagt mein Herz dazu? Und würde ich auch blind zurück ins Stadion finden?
Ich entschließe mich, jetzt einen Zahn zuzulegen, 1 km vor dem Ziel aber wieder auf die Bremse zu treten, um am Ende optisch einigermaßen aufgeräumt ins Stadion einzufedern. Frau muss ja schließlich auch an die Fotos denken!
Die Streckenposten vor dem Eingang zum Stadion verursachen klatschend und trötend einen Höllenlärm. Ich drehe mich um: Ausnahmsweise keiner da, der zum Überholmanöver ansetzt. Sie meinen mich. Ach herrje! Lampenfieber! Ich laufe durch ein kleines Tor, bin auf der Zielgeraden, da stehen auch schon meine jubelnden und klatschenden Kollegen, und der Stadionsprecher begrüßt mich über Lautsprecher: "Da lacht sie, die Martina!"
37:40 Min!
Martina Bartling (AWO Braunschweig)